Mein Leben

Meine Geschichte - und wie ich nach Brasilien kam

Geboren wurde ich am 16.12.1953 in Eichstätt. Ich wohnte mit meinen Eltern und 5 Geschwistern die ersten 6 Jahre am Lohrmannshof.
Darauf zogen wir nach Rebdorf. Ich besuchte die Volksschule, darauf das Willibald-Gymnasium in Eichstätt bis zur 8. Klasse, dann die Realschule Rebdorf.
Nach Schulabschluss machte ich eine Krankenpflegerausbildung im Schwabinger Krankenhaus München, danach 1 Jahr Zivildienst am Ebersberger Krankenhaus. Nach Freistellung durch den damaligen Bundesarbeitsminister Ehrenberg folgte die Vorbereitung bei der Arbeitsgemeinschaft für Entwicklungshilfe - AGEH in Köln für den Einsatz in Mato Grosso - Dauer 1 Jahr.
Anreise nach Brasilien am 29. Mai 1979.

Wie kam ich auf die Idee, in die Entwicklungshilfe zu gehen

Während meiner Realschulzeit bei den Herz-Jesu-Missionaren in Rebdorf hatte ich Kontakt mit Missionaren in Afrika. Zusammen mit anderen Schülern gründeten wir die SHARE-Gruppe (vom engl. retten, helfen, teilhaben - 3. Weltgruppe). Wir wollten - in der Schule und in der Gemeinde - zur Bewusstseinsbildung für die Probleme in der Dritten Welt - in der Schule und in der Gemeinde - beitragen und konkrete Projekte in Afrika unterstützen. Dabei wuchs bei mir auch der Wunsch, selbst eines Tages in einem Projekt der Dritten Welt zu arbeiten.

Wie kam ich zum Einsatz nach Brasilien

Ich bewarb mich bei der AGEH für ein Projekt in Afrika, erhielt jedoch eine Absage, da momentan kein Krankenpfleger für Afrika gesucht wurde. Man bot mir Mato Grosso - ambulante Lepraarbeit für das DAHW an. Ich war von diesem Angebot überhaupt nicht begeistert, weil ich nicht nach Lateinamerika gehen und von Lepra gar nichts wissen wollte. Mir grauste bei dem Gedanken. Also begann ich mit dem Zivildienst in Ebersberg. Doch die AGEH und das DAHW begannen sich für mich zu interessieren und man lud mich nach Köln zu einem Gespräch ein. Danach kaufte ich mir das Buch "Brasilien, Weltmacht von Morgen?" von Gustav Faber. Das weckte mein Interesse.

Doch um wirklich aufgenommen zu werden, musste ich mich einem Auswahlverfahren unterziehen, das eine Woche dauerte. Ich wurde zusammen mit anderen Kandidaten von Pädagogen geprüft; Psychologen testeten Charakter und Persönlichkeit, Durchhaltevermögen in extremen Stresssituationen, Improvisierungs- und Anpassungsvermögen. Nachdem wir den IQ-Test gemacht hatten, musste jeder ein Einzelgespräch mit dem Psychologen führen. Ich wurde akzeptiert.

Darauf die Vorbereitung in Köln bei einem 6-wöchigen Intensivkurs: Kultur und Religion, Wissenschaft und Politik in der Dritten Welt; dann ein 4-wöchiger Sprachkurs in Portugisisch, ein 2-wöchiger Tropenkurs in Hamburg und ein 2-monatiges Praktikum an der dermatologischen Uniklinik in Köln. Die Zeit verging, doch mein Visum für Brasilien kam nicht. Ich wurde schon ungeduldig und wollte meinen Vertrag kündigen. Doch da entschied die AGEH kurzfristig, dass ich als Tourist nach Brasilien reise und dort selbst nach meinem Visum schaue.

Meine Anreise

Am 29. Mai 1979 war dann am Münchner Flughafen der große Abschied: Über 30 Freunde und Arbeitskollegen kamen, es wurde viel Champagner getrunken! Mein allererster Flug wartete auf mich, ein Flug ins Ungewisse. Mir war sehr bange. Als ich dann im Flugzeug Platz nahm, war ich so nervös, dass ich gar nicht merkte, dass ich die Zeitung mit den Buchstaben auf dem Kopf "las". Dann starteten wir; es folgten Zwischenlandungen in Frankfurt, Dakar und Montevideo.
In Rio de Janeiro angekommen, nahm ich mir ein Hotel und fuhr dann sofort nach Copacabana, wo ich mir einige Biere genehmigte. Was für ein Gefühl, für mich fast unfassbar! Am nächsten Tag ging es weiter nach Campo Grande - Mato Grosso do Sul, wo ich vorerst im Lepradorf Sao Juliao bleiben sollte.

Mein erster Tag in Campo Grande - Mato Grosso do Sul

Welch eine Enttäuschung für mich: Es war am 31. Mai 1979 und es war sehr kalt, nur 6 Grad! - Wo ist das Land der Sonne, fragte ich mich. Ein kleines, kahles, bescheidenes Zimmer war meine vorläufige Unterkunft. Die Mahlzeiten nahm ich mit den italienischen Nonnen ein.

Am selben Abend war noch eine Lichterprozession mit Heiliger Messe, an der über 200 Leprakranke teilnahmen. Ich hatte noch nie einen Leprakranken gesehen und plötzlich war ich inmitten von 200 zum Teil sehr verstümmelten Menschen. Ich war schockiert. Plötzlich wurde mir klar, was ichzurückgel assen hatte: all den Wohlstand, das Vergnügen, das gute Essen. In Deutschland war ich unzufrieden, weil ich nicht wusste, wie gut es mir dort ging. Doch an diesem Abend geschah etwas sehr Schönes. Ich war nicht auf die Kälte eingestellt, hatte keine warme Kleidung, um mich vor der Kälte zu schützen. Die Leprakranken merkten dies, da ich schlotterte. Spontan sammelten sie einige Kleidungsstücke für mich und brachten 6 alte, zum Teil durchlöcherte Pullover. Es war alles, was sie hatten. Es wurde mir mit so viel Liebe gegeben, dass meine Augen sich mit Tränen füllten.

Die ersten Wochen in Campo Grande

Ich hatte in meinem Leben noch nie Elend, Hunger, Krankheit und Verzweiflung gesehen. Als ich dann mit der Krankenschwester die Leprakranken in ihren Hütten besuchte, war ich jedesmal zutiefst schockiert über die unmenschlichen und brutal armen Lebensbedingungen. Viele Lepröse leben in Hütten aus alten Blechbüchsen und Plastikfolien, viele hatten tagelang nichts zum Essen. Oft ging ich weinend aus einer Hütte. Eine Ohnmacht befiel mich, wie können Menschen so leben, warum lässt man das zu, warum ändert keiner die Situation.

Wie gehen wir in Deutschland mit unserem Reichtum um, wie schimpfen wir über unser gutes Leben!

Nach einigen Wochen wurde ich zu einem Fest im Lepradorf eingeladen, es war der 24. Juni 1979, Johannesfest. Die Königin war ein 16-jähriges Mädchen, auch leprakrank. Man stellte mich als Neuling vor. Meine Sprachkenntnisse waren noch nicht besonders gut.

Da kam das Mädchen zu mir und fragte, ob ich was trinken möchte. Als ich bejahte, brachte sie mir ein Glas Limonade. Doch bevor sie es mir reichte, trank sie daraus. Ich war erschrocken und hatte Angst, jetzt aus demselben Glas zu trinken. Doch da mich alle beobachteten, trank ich.

Darauf fragte sie mich, ob ich was essen möchte. Als ich bejahte, brachte sie mir ein Stück Kuchen, doch bevor sie mir ihn reichte, biss sie ein Stück herunter. Ich war total erschüttert und dachte mir, das ginge wohl zu weit. Doch um mich nicht zu blamieren, aß ich auch den Kuchen. Darauf klatschten alle vor Freude, und sie lud mich zum Tanz ein. Erst ein paar Tage danach erfuhr ich, dass das Mädchen gutartige Lepra hatte und bereits geheilt sei.

Meine Reise nach Bauru in Sao Paulo - Internationales Leprazentrum

Bauru liegt ca. 1000 km von Campo Grande entfernt. Ich fuhr mit dem Zug. Es war eine abenteuerliche Fahrt, 36 Stunden, quer durch Busch und Prärie. Eine deutsche Krankenschwester bat eine junge Lepraärztin, sich meiner in Bauru anzunehmen.

Damals konnte noch keiner ahnen, dass diese junge, hübsche Brasilianerin am 25. Juli 1981 in Rio Claro/Sao Paulo meine Frau werden würde. Vor meiner Abreise in Deutschland hatten meine deutschen Freunde mit mir gewettet, dass ich verheiratet aus Brasilien zurückkehren würde, denn ein Junggeselle überlebt in Brasilien nicht. Die Wette habe ich verloren, ich bereue es nicht!

Der erste Visum-Antrag wurde abgelehnt mit der Begründung, es gäbe keine Lepra in Brasilien und deshalb wäre keine Hilfe notwendig. So musste ich Anfang Oktober 1979 nach Deutschland zurückfliegen, um beim brasilianischen Generalkonsulat in München, nach 4 Monaten Aufenthalt in Brasilien, nun endlich mein Visum, vorläufig auf 2 Jahre befristet, persönlich abzuholen.

Mein erster Einsatzort Rondonopolis

Ich flog zurück nach Brasilien, um Anfang November an meinem wirklichen Einsatzort Rondonopolis zu arbeiten. Rondonopolis war damals eine kleine, arme Stadt, 500 km nördlich von Campo Grande. Raue Sitten herrschten in der Stadt; Oft kam es zu Schießereien; Streitigkeiten wurden meistens mit dem Revolver gelöst - da hat sich allerdings bis heute nichts geändert. In der Stadt gab es keine Leprabetreuung. Die Leprakranken lebten versteckt im Busch, sie hatten Angst in die Stadt zu kommen. Damals wurden die Leprakranken wie Verbrecher von der Polizei gejagt und ins Lepradorf nach Campo Grande gebracht. Alle mieden die Leprakranken.

Als ich in die Stadt kam, lange Haare, Bart, gerade 26 Jahre alt, wohnte ich im Franziskanerkloster. Die Menschen dort rätselten über den Sinn meines Kommens. Für einige war ich ein Franziskanerpater, für andere ein Revoluzzer, wieder für andere ein Spinner.

Damals gab es in Rondonopolis nur einen Gesundheitsposten, der von einem Militäroffizier, von Beruf Tierarzt, geleitet wurde. Es herrschte Militärdiktatur, die Menschen lebten in Angst und trauten keinem. Als der Offizier mich sah, zeigte er mir sofort seine offene Abneigung. Er machte mir das Leben sehr schwer, verhinderte, dass ich irgend etwas unternahm. Er selbst hasste Leprakranke: Wenn einer zu ihm kam, musste er 2 Meter Abstand halten. Dann schrie er ihn an: "Du dreckiger Hund, zieh dein Hemd aus!". Es war furchtbar. Zeitweise spielte er mir so übel mit, dass meine Franziskanerfreunde um mein Leben bangten.

Doch eines Tages geschah etwas: Der Militäroffizier brachte seine 9-jährige Tochter zu mir, damit ich sie untersuche. Sie hatte Lepra. Als ich ihm das sagte, brach er in Tränen aus, er war total verzweifelt. Er fuhr nach Sao Paulo, um einen bekannten Lepraarzt aufzusuchen; dieser bestätigte meine Diagnose. Daraufhin verließ der Offizier Rondonopolis.

Die einzige Unterstützung erhielt ich damals von den Franziskanern; ohne sie hätte ich diese harte Zeit nicht überstanden. Die Ordensleute waren sehr in der Jugendarbeit engagiert. Die Jugendlichen wurden meine Freunde und begannen sich für meine Arbeit zu interessieren.

Die Situation eines Leprakranken damals

Eines Tages wurde ich zu einem Leprakranken gerufen, der Lazaro hieß. Er lebte im Busch, einsam und verlassen in einer armseligen Hütte. Die Lepra hatte bereits schwere Schäden angerichtet: Hände und Füße waren nur noch Klumpen, die Augen waren fast erblindet. Seine Familie hatte ihn ausgesetzt. Einmal am Tag brachte seine Enkelin einen Teller Reis mit Bohnen, den sie ihm vor die Hütte setzte. Lazaro kroch dann auf allen Vieren zum Teller und aß mit dem Mund, ohne die Hände zu benützen. Ich musste mir mit einem Buschmesser einen Weg bahnen, um durch das Gestrüpp zu kommen. Auch eine Klapperschlange kreuzte meinen Weg. Als ich zu der Hütte kam, rief ich ihm zu: Habe keine Angst, ich komme dir zu helfen!

Aber Lazaro hatte Angst, noch nie hatte ihn jemand besucht, einmal wurde er von herumstreunenden Banditen überfallen und niedergeschlagen. Ich trat ein, und es kam mir ein furchtbarer Fäulnisgeruch entgegen, es war ein einziges Dreckloch. Ich setzte mich auf die Bettkante von Lazaro, untersuchte ihn, berührte seine verkrüppelten Hände, verband die Wunden und gab ihm die Medizin. Lazaro sah mich schweigend an, Tränen rollten aus seinen Augen. Wie lange war es her, daß er mit einem Menschen sprach!

Mein Besuch bei Lazaro wurde in der ganzen Stadt bekannt.

Es geschah etwas sehr Schönes: Die Pfarrjugendlichen interessierten sich für Lazaro, säuberten sein Grundstück und seine Hütte und strichen sie neu. Jeden Tag brachte eine andere Familie das Essen, zwei 16-jährige Gymnasiastinnen besuchten täglich Lazaro und verbanden seine Wunden.

Der lokale Rundfunksender interessierte sich für Lazaro, und täglich sprach der Reporter ein paar Worte für ihn durchs Radio. Die Zeit des Ausgestoßenseins für Leprakranke war zu Ende. Da die Leprakranken nun keine Angst mehr zu haben brauchten, sich in der Öffentlichkeit zu zeigen, nahm die Zahl der bekannten Leprakranken sehr rasch zu.

Der erste Behandlungsposten in Rondonopolis wurde von mir gebaut.

1983 erhielt ich vom DAHW 70.000 DM für diesen Ambulanzposten. Kurze Zeit später entstand hier noch ein Referenz- und Ausbildungszentrum für Mato Grosso.

Anfangs hatten wir 240 bekannte Leprakranke, nach 3 Jahren waren es 900, und heute sind mehr als 6000 Leprakranke in Rondonopolis erfasst.

In 22 Jahren habe ich mehr als 1 Million Kilometer mit dem Jeep zurückgelegt und persönlich mehr als 170.000 Menschen untersucht. Über 50.000 konnten von der Lepra geheilt werden, über 5.000 von Tuberkulose. Sie verbringen heute wieder ein normales Leben.

Eine gerechte Welt wird nicht durch endlose Diskussionen, durch großprotzige Projekte aufgebaut, sondern durch kleine Schritte der Nächstenliebe. Wenn ich einem Menschen helfe, ein menschenwürdiges Leben zu führen, habe ich Großes getan. Wenn viele Menschen so denken, dann verändert sich die Welt!